ANGST
RAUM
Eine dunkle Seitengasse, ein spärlich beleuchteter Bahnhof: Die Stadtplanung bezeichnet diese Orte als Angsträume. Eine Wienerin, eine Selbstverteidigungstrainerin und eine Stadtplanerin erklären, wie man sie meidet – oder sich ihnen am besten stellt.
Eine Multimedia-Reportage der FURCHE.

Die Straßenlaternen leuchten schon, als Franziska, die ihren echten Namen hier nicht lesen möchte, nach Hause geht. Eine Hand greift nach ihrer. Sie gehört dem Mann, an dem sie gerade vorbeigehen wollte. Sie zieht ihre Hand zurück, der Mann lacht. Franziska geht schnell weiter. Im Nacken spürt sie, dass der Fremde ihr folgt, ihr näherkommt. Ausweichen kann sie nicht, links vom schmalen Gehsteig ragen die Hausmauern hoch, rechts braust der Gürtelverkehr vorbei. Ihr bleibt nur eines: zu ihrer Wohnung zu laufen und ihren Freund anzurufen, damit dieser ihr im Vorhaus entgegenkommt. Erst bei seinem Anblick macht der Verfolger kehrt.
Dreimal schon ist Franziska genau diese Situation in den letzten paar Monaten passiert. Das macht den Währinger Gürtel im 18. Wiener Gemeindebezirk zu ihrem Angstraum.
Damit ist sie nicht allein. In einer aktuellen Online-Umfrage der FURCHE, an der rund 60 Personen teilgenommen haben, gaben die meisten Menschen individuelle Angsträume in Wien an. Dabei handelt es sich jedoch nicht zwingend um Orte mit hohem Gewaltaufkommen, wie auch die Stadt Wien auf ihrer Website vermerkt.




Es reicht, wenn ein Ort aufgrund schlechter Beleuchtung, Unübersichtlichkeit oder fehlender Fluchtmöglichkeit Unbehagen erzeugt und dadurch Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt. Das kann eine dunkle Unterführung, eine verlassene Gasse sein oder, wie eine Teilnehmerin in der Umfrage angibt: „Jeder Park nachts“.




Wenn es in Wien dunkel wird ...
... gehen in der Stadt die Lichter an. In Wien gibt es mehr als 160.000 öffentliche Leuchten.
In der FURCHE-Umfrage markierten die Teilnehmenden ihre Angsträume in Wien.
Trotz des dichten Beleuchtungsnetzes zeigt sich: Angsträume gibt es beinahe überall.
Büsche statt Bäume
Ursprünglich kommt der Begriff „Angstraum“ aus der Soziologie, angewandt wird er vor allem in der Stadtplanung. Angsträume durch gezielte Baumaßnahmen zu verhindern oder zu entschärfen, ist auch für die Stadtbaudirektion Wien ein zentraler Punkt. Genauer: für die Abteilung „Gender Planning“, die die Bedürfnisse von Frauen im gebauten Raum berücksichtigt. Denn wie auch aus der FURCHE-Umfrage hervorgeht, sehen sich vor allem weiblich gelesene Personen mit Angsträumen konfrontiert: Während 43 Prozent der Männer angaben, im letzten Jahr Angst im öffentlichen Raum verspürt zu haben, sind es bei Frauen und genderqueeren Personen über 80 Prozent – fast doppelt so viel.
In Wien ist Julia Girardi-Hoog die zuständige Sachbearbeiterin für gendergerechtes Planen – und damit auch für das Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum. „Angsträume sind schon lange ein Begriff im Gender Planning“, erklärt sie. Ihre Vorgängerin Eva Kail hat diesen Terminus bereits in den 1990er Jahren in der Stadtplanung etabliert und dadurch Wien zu seinem bis heute anhaltenden Ruf als führende Stadt in Sachen feministische Bautechnik verholfen.
Licht, Leute und Lärm: Die drei L-Wörter seien laut Girardi-Hoog zentral, um das Aufkommen von Angst in der Stadt zu vermeiden. Wegen der Lichtverschmutzung wird die Beleuchtung in Wiens Straßenraum nachts reduziert, die Gehwege bleiben jedoch konstant erhellt. Aber auch unscheinbare Maßnahmen wie ein frisch gestutzter Strauch haben zum Ziel, Orte übersichtlicher zu machen. Laut Girardi-Hoog würden deshalb auch mehr Bäume gepflanzt als Sträucher, denn an einem dünnen Stamm könne man vorbeisehen; bei bauchigen Gebüschen jedoch entstehe Unbehagen vor dem, was dahinter lauern könnte.
Das zweite und dritte Sicherheits-L gehen oft Hand in Hand: Leute und Lärm. „Eine Möglichkeit ist es, für Belebung zu sorgen. Zum Beispiel, indem wir mehr Lokale in die Erdgeschosse bringen, damit man nicht nur an verschlossenen Schlafzimmerfenstern vorbeigeht“, erklärt Girardi-Hoog. Für sie steht fest: „Egal, wie ihr euch anzieht, egal, ob ihr nüchtern oder betrunken nach Hause geht – Männer haben sich zu kontrollieren und Frauen haben ein Recht auf Sicherheit.“
Augen auf und durch
Obwohl Wien als Vorzeigestadt gilt, was die Prävention von Angsträumen betrifft, findet sich ein Großteil seiner Bewohnerinnen und Bewohner regelmäßig an Orten wieder, an denen sie sich nicht sicher fühlen. Viele davon liegen am Heimweg, so auch Franziskas.
Der schmale Gehweg zwischen Gürtel und Hauswand bietet Franziska keine Ausweichmöglichkeiten. Strecke und Gebäude sind zumeist menschenleer und der Autolärm erschwert das Telefonieren. Auch die Angst vor Unfällen steigert ihr Unbehagen; es sei keine Seltenheit, dass Autos vom Währinger Gürtel abkommen und in der Fußgängerzone verunfallen. Viele Autos halten sich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung, nachts liefern sich Fahrer oft illegale Autorennen auf der dreispurigen Straße, von der sich der Gehsteig nur wenige Zentimeter absetzt. Auch das macht Franziskas Heimweg zum Angstraum.
Als Schutz vor den Autos wünscht sich Franziska ein Geländer zur Straße. Oder, noch besser, einen breiteren, belebteren Gehweg, um auch suspekten Personen ausweichen zu können.
Stattdessen hat sie seit kurzem eine kleine Pfeife für Notsituationen. „Ich glaube nicht, dass es viel bringt“, räumt sie ein, „aber man fühlt sich besser.“ So oft es geht, nimmt sie ein Taxi, dafür hat sie extra Geld auf die Seite gelegt. „Aber sogar, wenn ich direkt vor meiner Tür aussteige, hupen mir Leute nach.“ Wenn ihr besonders unwohl ist, klemmt sie sich ihren Schlüssel zwischen die Finger wie eine kleine, stumpfe Waffe, die sie notfalls einsetzen kann. Ansonsten heißt es: Augen auf und durch.
Weglaufen ist die beste Verteidigung
Schlüsselbund umklammern, sich unter Kapuze oder Kappe verstecken, telefonieren oder so tun, als ob – oft sind es vor allem kleine Handlungen, die instinktiv in Angsträumen gesetzt werden. Allesamt valide Maßnahmen, weiß Selbstverteidigungsinstruktorin Irmengard „Irmi“ Weckauf-Hanzal. Sie hat das Selbstverteidigungsinstitut SAMI in Wien mitbegründet, dessen Konzept mittlerweile in über 40 internationalen Einrichtungen in Europa und den USA angewandt wird.
In ihren Kursen wird geschlagen, gerannt, aber auch gelernt: Die Expertin für Sicherheitsschulungen erklärt, wie man gezielt Gefahren erkennt, vermeidet und seine Angst dabei konstruktiv einsetzen kann: „Ich halte nichts davon, Angst niederzukämpfen. Menschen, die Opfer von einer Gewalttat geworden sind, sagen meistens, dass sie das vorher gespürt haben. Aber oft sagt man sich ‚Nein, ich bin hysterisch, da ist ja nichts‘. Deshalb ermutige ich Menschen, dass man die innere Stimme immer ernst nimmt und nach ihr handelt.“
Panik hingegen gelte es zu vermeiden – hier helfen Entspannungstechniken wie Atemübungen, um klar zu denken und Maßnahmen einzuleiten, um einem Angstraum aus dem Weg zu gehen. Sollte man sich in einer Gefahrensituation wiederfinden, rät Weckauf-Hanzal: „Es gibt den Spruch ‚Angriff ist die beste Verteidigung.‘ Ich sage, es ist die zweitbeste. Weglaufen ist die beste Verteidigung.“
Wegzulaufen hat auch
Franziska bereits dreimal
innerhalb weniger Monate
sicher aus Situationen
gebracht, die durch
ihren Angstraum begünstigt
wurden. Für den Fall, dass sie
doch einmal auf die zweitbeste
Verteidigung zurückgreifen
müsste, möchte sie aber
auch wieder mit Kampfsport
anfangen. „Bis ich 18 war,
habe ich Karate gemacht.
Ich habe gemerkt, dass ich
jetzt ganz anders bin,
seit ich das nicht mehr besuche.“
Sich aus dem öffentlichen
Raum drängen zu lassen,
ist keine Option für die
Wienerin: „Ich versuche,
durch diese Vorfälle nicht
mehr Ängste zu entwickeln,
sondern trotzdem mit der
U-Bahn zu fahren und über
den Währinger Gürtel zu gehen.“
Und das macht sie auch,
mit hochgerecktem Kinn,
klimperndem Schlüsselbund
und wehendem schwarzen
Rock. Damit die Lauernden,
die Hupenden, die
Straßenrowdies, sie alle sehen:
Die Stadt gehört auch ihr.

Hier können Wienerinnen und Wiener ihre Vorschläge zur Optimierung von Orten im öffentlichen Raum an die Stadtplanung schicken: https://www.sags.wien/
Fotos: © FURCHE
Kartenmaterial: © Mapbox © OpenStreetMap
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